Der Blick über das Mittelmeer offenbart, wie Corona die Not von Geflüchteten vergrößert

Hintergrund

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie treffen diejenigen besonders hart, die bereits zuvor ums Überleben kämpften: Menschen auf der Flucht. Nicht nur im Camp Moria auf Lesbos ist die Situation für Geflüchtete verheerend. Auch in europäischen Anrainerstaaten wie Tunesien bangen Geflüchtete, aber auch irreguläre Migrant/innen, um ihre Existenz und fürchten eine dauerhafte Internierung in Auffanglagern. Im Schatten der Corona-Krise werden dafür politische Vorkehrungen getroffen und Notfallpläne verhandelt.

Der mediale Blick in der Corona-Krise verbleibt derzeit in den westlichen Industrieländern. Dabei kämpfen an den Rändern der Europäischen Union (EU) in Nordafrika Staaten gegen die Pandemie und deren gravierende Folgen für die Wirtschaft. Erstaunlich schnell und bestimmt reagierte dabei Tunesien auf die Ausbreitung des Virus: Viele Restaurants und Cafés mussten schließen, nachdem erste Meldungen von Corona-Fällen in der Hauptstadt Tunis die Runde machten. Als der Luftverkehr in Tunesien eingestellt wurde, machten viele Hotels aufgrund ausbleibender Tourist/innen zu. Wichtige Einnahmequellen aus der Gastronomie- und dem Tourismussektor versiegen somit auf unbestimmte Zeit. Besonders hart ist dieser wirtschaftliche Einschnitt für Migrant/innen und Geflüchtete, die bereits zuvor unter äußerst prekären Bedingungen lebten und von den staatlichen Lohnersatzzahlungen ausgeschlossen sind.

Wer Geflüchteter ist, lässt sich nicht immer bestimmen

Knapp zwei Drittel der geschätzten 75.000 Migrant/innen, die in Tunesien leben, kommen aus Ländern Sub-Sahara-Afrikas1. Hinzu kommen knapp 4.500 Asylsuchende, von denen die Mehrzahl (38,3 Prozent) aus Syrien geflohen ist. Viele dieser Menschen sind entweder irregulär über die libysche oder algerische Grenze nach Tunesien eingereist oder rutschen nach Ablauf ihrer regulären Aufenthaltsdauer (meist drei Monate) in die Illegalität ab. Die Unterscheidung zwischen Geflüchteten und Migrant/innen fällt dabei nicht ganz so leicht, da die Fluchtursachen und Migrationsrealitäten der Menschen oft komplex sind.

Gerade im tunesischen Kontext stellt sich die Frage, ob beispielsweise ein Arbeitsmigrant aus Niger, der auf den Ölfeldern Libyens jobbte und im Zuge des Bürgerkrieges aus Angst um sein Leben nach Tunesien flüchtete, nun von den Behörden als Migrant oder Geflüchteter eingestuft wird. Die Begriffe von Flucht und Migration werden dabei - teilweise absichtlich - im politischen Diskurs miteinander vermengt. Die Durchsetzung der Rechte von Geflüchteten wird dadurch erheblich erschwert und Verfahren zur Asylanerkennung zögern sich monatelang hinaus.

Was jetzt tun als Migrant/in oder Geflüchtete/r?

Trotz einem Bekenntnis zum Asylrecht in der tunesischen Verfassung von 2014, liegt ein Entwurf für ein entsprechendes Organgesetz seit 2016 auf Eis. Die Zuständigkeit für die Bearbeitung von Asylfällen liegt daher beim Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Solange der Status von Geflüchteten nicht geklärt ist, können sie weder einen Wohnsitz anmelden noch erhalten sie eine Arbeitserlaubnis. Eine formelle Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt ist damit sowohl für irreguläre Migrant/innen als auch Asylsuchende faktisch unmöglich. Stattdessen schlagen sie sich als Tagelöhner/innen durch und heuern als Köche in Restaurants, als Arbeiter auf Baustellen oder als Putzkräfte im Hotelgewerbe an. Gibt es keine Nachfrage nach zusätzlicher Arbeitskraft – wie es in dieser Krise der Fall ist – kann auch der Lebensunterhalt nicht bestritten werden. Viele befürchten ihre Miete nicht mehr zahlen zu können und auf der Straße zu landen.

Wer kein Arabisch spricht, was auf viele der Menschen aus Sub-Sahara-Afrika zutrifft, läuft zudem Gefahr nicht über die aktuellen Entwicklungen und Auflagen der tunesischen Gesundheitsämter informiert zu werden und gegen Vorschriften zu verstoßen. Um den Behörden nicht in die Hände zu fallen, trauten sich schon vor dem Ausbruch der Pandemie viele irreguläre Migrant/innen nicht, einen Arzt aufzusuchen. Rassismus und Stigmatisierung bei einer Corona-Erkrankung sowie drohende Strafmaßnahmen wie hohe Bußgelder, Inhaftierung oder sogar Abschiebung, wenn sie von der Polizei erwischt werden, lassen auch jetzt viele der Menschen aus Sub-Sahara-Afrika davor abschrecken, sich in ärztliche Behandlung zu begeben.

Dies verstärkt die Angst, sich mit dem Virus anzustecken. Die oft beengten Zustände, in denen Migrant/innen und Geflüchtete in Tunesien untergebracht sind, begünstigen dabei eine schnelle Verbreitung des Virus. In dem sogenannten „Empfangs- und Orientierungszentrum Al-Wardia“ - eine Einrichtung, die sich eigentlich um die Belange von irregulären Migrant/innen kümmern sollte, de facto aber ein Abschiebelager ist - traten zuletzt rund zwei Dutzend inhaftierte Migranten in den Hungerstreik, um für einen besseren Schutz vor dem Virus zu protestieren.

Die Zivilgesellschaft als Rettungsanker

Wie so oft in der jungen Geschichte der tunesischen Demokratie, ist es die Zivilgesellschaft, die in dieser Krise für humanitäre Entlastung sorgt und Unterstützung für die Notleidenden organisiert. Bereits wenige Tage nach der Verhängung von Ausgangsbeschränkungen verbreiteten sich Solidaritätsbekundungen mit den Migrant/innen und Geflüchteten aus Sub-Sahara-Afrika in sozialen Netzwerken. In Stadtvierteln in denen viele von ihnen leben, wurden Spenden gesammelt und Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) verteilten Essen und Hilfsgüter an Bedürftige.

Erst nachdem mehrere Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen öffentlich die Politik zum Handeln aufforderten, beschloss die Regierung alle gültigen Aufenthaltstitel, der in Tunesien sesshaften Ausländer/innen, bis zum Ende der Krise zu verlängern sowie die Strafmaßnahmen bei einem Überschreiten der erlaubten Aufenthaltsdauer auszusetzen. Die Migrant/innen und Geflüchteten müssen in Tunesien somit zumindest bis zum Ende dieser Krise keine Strafverfolgung mehr befürchten. Eine politische Antwort, die auch strukturelle Lösungen auf die prekäre Lebenssituation von Geflüchteten und Migrant/innen in Tunesien vorsieht, bleibt jedoch eine langfristige Herausforderung für Tunesien.

Trotz Abschottung wird die Migration in die EU wieder zunehmen

Derzeit deutet vieles darauf hin, dass sich die Situation für Migrant/innen in Tunesien weiter verschlechtern wird. Daran trägt nicht zuletzt auch die EU mit ihrer Politik der Abschottung und Grenzverlagerung sowie ihren gescheiterten Interventionen im Libyen-Konflikt bei. Bereits Mitte des Jahres 2019 war die Zahl der Migrant/innen mit insgesamt 1.008 Menschen, die irregulär über die libysche Grenze nach Tunesien gelangten, mehr als doppelt so hoch wie im gesamten Vorjahr.

Angesichts des eskalierenden Konfliktes in Libyen in den letzten Wochen ist damit zu rechnen, dass in Zukunft die Einwanderung nach Tunesien noch weiter zunehmen wird. Einige der irregulär in Tunesien ankommende Migrant/innen landen nach Festnahme durch die Polizei in Internierungseinrichtungen oder werden nach Algerien oder Libyen abgeschoben. Der Großteil der Neuankömmlinge sieht dabei Tunesien allerdings nur als die letzte Zwischenstation auf dem Weg nach Europa, was die EU zusätzlich alarmiert.

In den ersten Jahren nach der Revolution im Jahr 2011 waren es fast nur junge Tunesier/innen, die aufgrund von Perspektivlosigkeit eine Überfahrt nach Europa riskierten. Doch in der letzten Zeit stieg die Zahl ausländischer Migrant/innen und Geflüchteter, die sich von der Küste Tunesiens aufmachten. Von 2018 auf 2019 nahm der Anteil an Nicht-Tunesier/innen, die auf abgefangenen Booten Richtung Europa gezählt wurden, von 11 auf 33 Prozent zu. Diese Entwicklung wird sich absehbar verstärken. Wenn die Tourist/innen wegen der Corona-Krise länger wegbleiben, könnten einige der Fischer und Saisonarbeiter, die auf die Devisen angewiesen sind, sich gezwungen sehen mit den Sehnsüchten dieser Menschen Geschäfte zu machen und ihr Glück als Schleuser zu versuchen.

Am Tropf der EU: Die Abhängigkeit Tunesiens wächst in der Krise

Der politische Druck auf Tunesien von Seiten der EU wird daher enorm steigen. Vor allem wenn Libyen wegen des sich verschärfenden Krieges demnächst vollends in der Abwehr von Migrant/innen für die EU ausfällt. Der zynische Versuch Libyen – ein Land im Kriegszustand, in dem Migrant/innen vergewaltigt und gefoltert werden, als „verlässlichen Partner“ der EU aufzubauen, war von Beginn an zum Scheitern verurteilt.

Nun wird Tunesien noch stärker in den Fokus der europäischen Außenpolitik rücken. Bisher konnte sich die tunesische Politik eine enge Einbindung in die Migrationspolitik der EU noch widersetzen. Doch spätestens wenn die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in der Bevölkerung spürbar sind und der soziale Druck wächst, schwindet der politische Verhandlungsspielraum für Tunesien. Ökonomischen Schätzungen zufolge wird das Land in diesem Jahr die tiefste Rezension seit seiner Unabhängigkeit 1956 durchschreiten. Ein weiterer Anstieg, der ohnehin hohen Arbeitslosigkeit wird folgen. Tunesien hängt am finanziellen Tropf der EU, die im vergangenen Jahr die größte multilaterale Geldgeberin für das kleine Land war. Die tunesische Regierung kann sich kaum erlauben, die massive europäische Unterstützung, gerade jetzt in der Krise, aufs Spiel zu setzen.

Mit großem Argwohn beobachten Menschenrechtsorganisationen, was in der Nähe der libyschen Grenze mitten in der Wüste Südtunesiens, abseits der Corona-Aufmerksamkeit, entsteht. In Bir Fatnassia, einem Ort nur 27 km von der Stadt Remada entfernt, wird ein Flüchtlingscamp gebaut, was eine Aufnahmekapazität von zwischen 25.000 und 50.000 Menschen haben soll. Offiziell handelt es sich dabei um eine „temporäre“ Unterbringungsmöglichkeit für Geflüchtete, die wegen des Krieges in Libyen das Land verlassen könnten. Medienberichten zufolge sollen das UNHCR, die Internationale Organisation für Migration, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF sowie die Weltgesundheitsorganisation in die Planungen des Flüchtlingscamps einbezogen sein.

Diese umfassenden Vorbereitungen lassen die tunesische Zivilgesellschaft befürchten, dass aus diesem Notfallplan langfristig eine „Ausschiffungsplattform“ nach europäischer Vorstellung entstehen könnte und Geflüchtete in diesem Lager dauerhaft untergebracht werden, d.h. solange wie ihr Status und ihre Zukunft nicht geklärt ist. Praktischerweise liegt ein Militärflughafen unweit der Stadt Remada. Der Europäische Rat stellte die Idee solcher Plattformen bereits Ende 2018 vor, wobei neben Marokko und Algerien auch Tunesien als Ausrichter dieser „Hotspots“ in der Diskussion war.

Die Corona-Krise könnte diesem Vorschlag nun zu einer neuen politischen Dynamik verhelfen. Seit den Quarantänebestimmungen ist im Mittelmeer kein Schiff mehr im Einsatz, um Seenotrettungen durchzuführen. Die Schließung der Binnengrenzen macht eine Weiterreise innerhalb der EU unmöglich, sodass Migrant/innen und Geflüchtete gezwungen sind auszuharren. Im Falle Maltas, welches ein in Seenot geratenes Boot wegen „gesundheitslogistischer Engpässe“ zurück nach Libyen schickte, zeigt sich, wie diese Krise bereits benutzt wird, um sich mit anderen humanitären Problemen nicht mehr befassen zu müssen.  Verglichen mit diesen intendierten, gesteigerten Gefahren für Geflüchtete und Migrant/innen bei einer irregulären Einreise in die EU, erscheint die Einrichtung von Auffanglagern in Nordafrika deshalb fast wie eine humanitäre Alternative.

Bedürfnisse und Sehnsüchte zergehen nicht wegen Corona

Trotz Freiheits-und Mobilitätsbeschränkungen, trotz Einrichtungen von Massenlagern für Geflüchtete und verstärktem Grenzschutz und trotz der Einstellung staatlicher und privater Seenotrettungen, werden sich Menschen weiterhin auf den Weg machen, um Krieg und politischer Verfolgung zu entkommen oder schlichtweg, um woanders ein besseres Leben zu führen.

Dies zeigt sich derzeit beispielsweise auf der griechischen Insel Lesbos, genauso wie in Libyen oder in einem Land wie Tunesien, das weniger im Fokus der europäischen Öffentlichkeit steht. An den Küsten Nordafrikas warten weiterhin Menschen auf ihre Chance, nach Europa zu kommen. Auch sie dürfen in der Krise nicht zurückgelassen und vergessen werden. Die Zivilgesellschaft, ob in Tunesien oder Italien oder Griechenland, weist immer wieder darauf hin, dass der Schutz von Menschen auf der Flucht eine Pflicht demokratischer Staaten ist.

Kurzfristige humanitäre Hilfe in Krisenzeiten reicht nicht aus und die Auslagerung der Probleme in andere Staaten ist nicht verantwortbar. Die EU muss in Kooperation mit ihren Partnern migrationspolitische Perspektiven erarbeiten und dafür sorgen, dass Asylsuchende weiterhin Schutz erhalten. Hierzu zählt vor allem legale Einwanderungsmöglichkeiten in die EU zu schaffen, die sich nicht ausschließlich an den Bedürfnissen des europäischen Arbeitsmarktes orientieren, sondern ebenso Kontingente für politische Verfolgte und Geflüchtete aus Kriegs- und Krisenländern beinhaltet. Die Corona-Krise darf nicht dazu führen, dass wir den Blick auf das Nationale verengen. Die EU muss den Blick auf ihre Außengrenzen richten. Das ist nicht nur eine Verpflichtung, die sich aus den Überzeugungen der EU ergibt, sondern es ist langfristig entscheidend, den Menschen vor Ort eine Perspektive zu geben.


1 Faten Mskeni : « Des pays de l’Afrique Sub-saharienne à la Tunisie : Etude quantitative pour les conditions des migrants en Tunisie, les aspects généraux, les trajectoires et les aspirations » (en arabe) ; FTDES 2019